Eine Russische Intifada
Von Israel Shamir
Die Entscheidung des estnischen
nationalistischen Premierministers Andrus Ansip, das Grab des
Unbekannten Soldaten in Reval herauszureißen, brachte diesen
kleinen baltischen Staat an den Rand eines Bürgerkriegs und
störte ernstlich den Frieden in dieser Region. Dieses für
gewöhnlich ruhige, entzückende, von der Hansa erbaute alte
Reval, das von einer langen Stadtmauer mit dem „Langen Hermann“
und der „Fetten Margarete“, zwei im 15. Jahrhundert erbauten
Türmen, umgeben ist, ist nun voll von schwer bewaffneter
Polizei, Hunderten von Festgenommenen, die im Terminal D des
Hafens eingesperrt und verprügelt wurden, niedergebrannten
Läden, Folter und Misshandlung, ein offener ethnischer Konflikt,
lautstarke Unterstützung durch die Neocons – nicht gerade das,
was man in diesem angenehmen Land mit seinem friedvollen Volk zu
finden erwarten würde. Die Esten, die Ureinwohner des Landes –
ein großes, ruhiges und blauäugiges Bauernvolk – sind angeblich
so ruhig, dass bei ihren Nachbarn „ein jähzorniger estnischer
Bursche“ ein Synonym für eine sehr bedächtige Person ist. Diese
guten Handwerker und Fischer, die ihren Kaffee gerne mit dem
süßen Likör „Vana Tallinn“ zu sich nehmen, meldeten sich aber
auf der anderen Seite en masse freiwillig für SS-Divisionen der
Nazis und waren führend bei ethnischen Säuberungen.
Für einen Israeli lösen diese Ereignisse in
Reval einen starkes Déjà-vu-Gefühl aus. Das Herausreißen des
Grabes des Unbekannten Soldaten wurde von der nationalistischen
Regierung in ausgesprochen beleidigender und arroganter Weise
durchgeführt. Dies löste eine russische Intifada aus, ein
spontaner Aufstand der nicht Privilegierten. In ähnlicher Weise
gab im schicksalhaften September 2000 der provozierende und
arrogante Besuch Ariel Sharons in der Al-Aksa-Moschee der
palästinensischen Intifada Starthilfe. In beiden Fällen wurde
die Provokation von extremen Nationalisten der regierenden
ethnischen Gruppe begonnen, die erpicht darauf waren, die
zerbrechlichen Beziehungen zwischen den Volksgruppen zu
vergiften, da sie von Streitigkeiten leben. In beiden Fällen
beanspruchten sie das unbeschränktes Recht zu tun, was immer
ihnen beliebte. In beiden Fällen war die Aufmerksamkeit der
Medien auf die Reaktion infolge der Provokation gerichtet, statt
auf ihre Ursachen. Sicherlich war die gewalttätige Reaktion der
Palästinenser 2000 und der Russen 2007 – ihre Krawalle,
Steinewerfen und Niederbrennen von Läden – offensichtlich,
erkennbar und unangenehm. Weniger sichtbar ist jedoch, dass sie
jeweils das Ergebnis von Provokationen und einer langen Kette
von Ungerechtigkeiten war, die zu diesem Ausbruch von Gewalt
führten.
Estland ist berüchtigt dafür, der Apartheid
näher zu kommen, als jedes andere Land in Europa seit 1945. Die
Columbia Encyclopaedia sagt uns, dass die Esten
(Eestlanes) ungefähr 65 Prozent der Bevölkerung ausmachen;
Russen erreichen 30 Prozent, und es gibt ukrainische,
weißrussische und finnische Minderheiten. Seit der
Unabhängigkeit (1991) wurde die Staatsbürgerschaft allgemein auf
estnische Volksangehörige beschränkt, eine Praxis, die stark
kritisiert wurde, da sie den zahlreichen russisch sprechenden
Einwohnern politische und bürgerliche Rechte verweigert. 1993
wurden russische Volksangehörige offiziell zu Ausländern
erklärt, was noch stärkere Einwände auslöste. Die „Russen“
Estlands sind verschiedenen Ursprungs – ukrainische, georgische,
deutsche, armenische, jüdische und russische Volksangehörige –
alle Nicht-Ureinwohner werden „Russen“ genannt. Den Russen wurde
die Staatsangehörigkeit aberkannt, ihre Personalausweise tragen
nun den Stempel „Ausländer“, während sie privat „Neger“ genannt
werden – eine Abkürzung für „Ne-Gr“, nicht Staatsangehöriger.
Dies ist keineswegs ein gewöhnlicher
Immigranten-gegen-Einheimische-Konflikt. Die Nicht-Eestlanes
sind nicht mehr „Immigranten“ in Estland, als die Pariser
Immigranten in Korsika sind oder die Londoner in Wales. Estland
wurde 1721 russisch, noch bevor Korsika (1768) französisch wurde
und verblieb bis 1991 in Union mit Russland, mit Ausnahme der
kurzen Unterbrechung (1921-1940). Nicht eingeborene Esten wurden
in jedem europäischen Land als gleichberechtigte und normale
Bürger angesehen, außer im neuen Estland. Sogar „neuere
Einwanderer“ immigrierten in völlig legaler Weise vor über
fünfzig Jahren in das Land, was später Estland wurde.
Estland besaß alle Vorbedingungen für eine
friedliche Koexistenz zwischen seinen Volksgruppen. Die Russen
hatte eine positive Einstellung gegenüber den einheimischen
Eestlanes, ihrer Kultur und ihrer Sprache, die ihre Traditionen
bewahrte: Tatsächlich überlebte und gedieh die estnische
Sprache, während die Idiome von Völkern mit vergleichbarem
Territorium und vergleichbarer Bevölkerung, wie etwas der
Bretonen, der Einwohner Cornwalls oder der Sorben (beheimatet
jeweils in Großbritannien, Frankreich und Deutschland) beinahe
verschwunden sind. Russische Schriftsteller und Poeten fühlten
sich vom baltischen Charme Revals angezogen und machten die
Stadt zum Schauplatz vieler Romane. Während die benachbarten
Schweden die Eestlanes als ungeschlacht und plump ansahen
(„estnisches Ballett“ ist ein schwedische Synonym für
schwerfälligen und plumpen Gang), förderten die Russen ein
schmeichelhaftes Bild der Esten als stille, Pfeife rauchende,
starke Männer.
Es gibt auch keinen klaren rassischen
Unterschied: Die Russen sind als Volk eine Mischung aus
slawischen und finnischen Stämmen (wie die Franzosen eine
Verschmelzung keltischer und germanischer sind), und sie können
von den einheimischen Esten nicht durch ihre Gesichtszüge
unterschieden werden. Im gegenwärtigen Konflikt um das Denkmal
rief Jurgen Ligi, der estnische Ex-Verteidigungsminister, zur
Entfernung des „Kultbildes mit einem monströsen russischen
Gesicht“ auf. Der ignorante Rassist wusste nicht, dass das
„monströse russische Gesicht des Götzenbildes“ ein estnische
Gesicht war, das der estnischen Künstler Enn Roos nach einem
bekannten estnischen Sportler modelliert hatte.
Die örtlichen Russen waren extrem pro-estnisch
eingestellt: Sie mochten die Esten, sie unterstützten die
estnische Unabhängigkeit 1991 und erwarteten, Staatsbürger mit
vollen Rechten im neuen Estland zu bleiben. „Als die Eestlanes
ihre Unabhängigkeit forderten, unterstützte die
russisch-estnische Intelligenzija (die gebildete Schicht) sie
nicht nur dabei, sondern stand im Kampf an vorderster Front“ –
schreibt Lara Larson, eine russische Estin, deren Blog
http://laralarson.livejournal.com/ zur Zeit äußerst populär
ist. „Jetzt verstehen wir, dass dies aus unterschiedlichen
Gründen geschah: Die Eestlanes kämpften für ihr abgeschiedenes,
isoliertes Leben, während die Russen für die Demokratie
kämpften. Das jüngst unabhängig gewordene Estland erfüllte die
Vision der Esten, wohingegen die Demokratie, nach der wir
strebten, sich nicht verwirklichte. Nicht-Eestlanes wurden ihrer
Bürgerrechte entkleidet. Das war der erste Schlag. Es gab viele
Beleidigungen, wir wurden ständig gekränkt. Zuerst hofften wir,
es sei eine vorübergehende Entwicklung; und dass bald
Gleichberechtigung und Brüderlichkeit gedeihen würden. Es gab
tatsächlich Verbesserungen, aber vor zwei Jahren verschlimmerte
eine extrem nationalistische Regierung die Dinge.“
„Die russisch sprechende Gemeinschaft wird
wieder diskriminiert. Offiziell haben sie einfach nur kein
Recht, an den Parlamentswahlen teilzunehmen. Aber die
inoffizielle Diskriminierung ist viel schlimmer. Die Russen
leiden unter starker Arbeitslosigkeit und verdienen weniger; es
gibt praktisch keine Russen in Spitzenstellungen. Es gibt keine
Russen in den aufgemöbelten staatlichen Organisationen. Die
Eestlanes praktizieren eine völlige Trennung am Arbeitsplatz.
Bedeutet dies, dass die Russen weniger tüchtig, weniger
lernfähig sind, dass sie dazu verdammt sind, Straßen zu kehren?
Wohl kaum. Die Sprachgesetze lieferten die perfekte
Diskriminierungsmaschinerie, da sie es für die Russen fast
unmöglich machten, Staatsbürger zu werden: Man hat eine solche
Beherrschung des Estnischen vorzuweisen, dass ein normaler
Eestlane dies nicht erreichen kann. Zum Beispiel muss man ein
langes Essay verfassen, das die Vorteile von Investitionen in
Estland rühmt.“
„Man konnte keinen Job bekommen, nicht einmal
einen sprachlich nicht anspruchsvollen, außer man legte diese
Prüfung ab. Die Prüfungen wurden jedes Jahr immer
anspruchsvoller; man muss eine außerordentlich gut belesene und
gebildete Person sein, um den Test zu bestehen. Nun wurde eine
neue Maßnahme eingeführt: Die Sprachkommission kann dich
jederzeit überprüfen und deine Examen für ungültig erklären,
falls sie zu dem Schluss käme, dass dein Eesti nicht auf der
Höhe ist. Aber sogar estnischen Staatsbürgern russischer
Herkunft wurden Jobs vorenthalten, und sie wurden auf viele
subtile und nicht-so-subtile Arten diskriminiert.“
„Der Abriss der Grabstätte war eher der
Auslöser. Der diskriminierte Teil der Bevölkerung wollte dem
nicht tatenlos zusehen. Derartig anhaltender Druck und die
Misshandlungen konnten nicht immer so weiter gehen. Massen von
Menschen gingen raus auf die Straßen, um zu protestieren, sie
hatten keine Führer, keine Organisation, aber sie hatten die
Nase voll von der Diskriminierung. Dies ist kein politischer
Konflikt; dies ist eine Bewegung für Bürgerrechte, für
Gleichberechtigung.“
Die merkwürdige Idee, Einheimische ihrer
Staatsangehörigkeit zu entkleiden, nur weil ihre Vorväter
jenseits der jetzigen Grenze geboren wurden, wirkt in Europa
fehl am Platz. Im benachbarten Schweden erhält jeder Immigrant
die schwedische Staatsbürgerschaft und wird so sehr zu einem
Schweden, wie der König (der selbst Nachfahre von Immigranten
ist, väterlicherseits aus Frankreich und mütterlicherseits aus
Deutschland). Es ist nicht nötig, schwedisch zu beherrschen,
obwohl man es auf Staatskosten lernen kann – im Gegensatz zu
Estland. Ein Immigrant kann in seiner Muttersprache Prüfungen
ablegen, seinen Führerschein machen und Formulare ausfüllen. In
Finnland hat eine kleine schwedische Minderheit volle Rechte und
kann ihre Sprache überall frei gebrauchen. Es gibt in diesen
Ländern keinerlei Probleme zwischen der einheimischen Mehrheit
und ethnischen Minderheiten.
Der Ausbruch der russischen Intifada sollte den
Esten ein Warnzeichen sein. Statt dass sie die niedergebrannten
Läden beklagen und beleidigende Briefe an ihre Zeitungen
schreiben, sollten sie darüber nachdenken, was die Aufstände
ausgelöst hat und die Situation in Richtung des schwedischen und
finnischen Modells abändern. Sie sollten die Sprachgesetze
abschaffen, ihrer russisch sprechenden Minderheit die
Staatsbürgerschaft geben und Diskriminierung verbieten. Sie
sollten sich für Gleichberechtigung einsetzen und einen Russen
zum Präsidenten wählen, so wie die Inder einen Muslim wählten
und der Proklamation der Menschenrechte folgen. Kurz, sie
sollten vom Baum herunterkommen und im 21. Jahrhundert ankommen.
Das Problem ist, dass die Esten das am wenigsten
gläubige, gottloseste Volk Europas sind. Answers.com:
Laut der letzten „Eurobarometer“-Umfrage von Eurostat,
antworteten 2005 nur 16 Prozent der estnischen Bürger, dass „sie
glauben, dass es einen Gott gibt“. Dies hätte gemäß dem Bericht
die Esten zu dem am wenigsten religiösen Volk
Europas gemacht“, wohingegen die Russen in Estland an Gott
glauben. Obwohl es also zweimal so viele Eestlanes wie Russen
gibt, machen die Lutheraner 39 Prozent und die Orthodoxen 28
Prozent aus. Eine gottlose Bevölkerung geht leicht in die Falle
nationalistischer Mythen. Daher errichten sie Denkmäler für ihre
SS-Kämpfer, ziehen über die russische Besatzung und Stalins
Unterdrückung her und veröffentlichen rassistische Attacken
gegen „degenerierte Slawen“. Vergesst Haider, vergesst Le Pen –
diese Burschen sind Liberale und Demokraten im Vergleich mit den
gegenwärtigen estnischen Führern.
Während Deutschland streng bestraft und
vollständig entnazifiziert wurde, sah man Estland eher als
Nazi-Opfer an, denn als ein williger Kollaborateur der Nazis.
Die Jerusalem Post vermerkte „die aktive Beteiligung
zahlreicher Esten an Verbrechen des 2. Weltkriegs und die
Unterstützung eines großen Teils der einheimischen Bevölkerung
für die Nazi-Besatzung. Es gab keine anti-Nazi Untergrund- oder
Widerstandsbewegung irgendeiner Art in Estland.“ „Stalins
Repressionen“ waren eine Form der Entnazifizierung, die weniger
streng war, als diejenige, die von den Amerikanern im besetzten
Deutschland durchgeführt wurde. Während die Anglo-Amerikaner den
Tod von Millionen von Deutschen verursachten und die
Franzosen wahrscheinlich etwa 50.000 ihrer Kollaborateure
töteten, war Stalins Entnazifizierung nicht vollständig genug.
Nach 1991 hatten die Nazi-Elemente in Estland ihr Comeback.
Ephraim Zurov von der Jerusalem Post
schreibt: „Die estnischen Justizbehörden haben viele
Anstrengungen unternommen, um kommunistische Verbrecher zu
verfolgen, meistens Russen, von denen mindestens zehn schon in
Estland verurteilt wurden. Dasselbe kann jedoch nicht von den
Untersuchungen behauptet werden, die über Esten angestellt
wurden, die mit den Nazis in Holocaust-Verbrechen
kollaborierten. Nicht ein einziger estnischer Staatsbürger, der
sich an der Verfolgung und/oder Ermordung von Juden während des
2. Weltkriegs beteiligte, wurde in Estland vor Gericht gestellt,
trotz des reichlichen Vorhandenseins belastender Beweise.“
Ich habe jetzt einige Tage im estnischen
Internet zugebracht, und es war eine erschreckende Erfahrung.
Die Schriften triefen vor Hass und Rassismus, vieles davon ist
gegen Russland gerichtet. Ein offizielle Stadtführer von Reval
sagt, ein russischer Zar habe die berühmte
Alexander-Newsky-Kathedrale gebaut, um „das Grab des estnischen
Helden Kalev auszulöschen“. Dies wurde erwähnt im Zusammenhang
mit den von der Roten Armee verursachte Zerstörungen, während
sie Reval 1944 auf höchst dramatische Weise einnahm: Nicht
einmal die Neo-Nazis in Deutschland benutzen solche Worte.
Dies ist einer der Gründe für die Probleme
zwischen den Eestlanes und den örtlichen Russen: Die letzteren
feiern den 8. Mai 1945, während dies für die ersteren ein
Trauertag ist. Natürlich gab es einheimische Esten in der Roten
Armee, aber jetzt entschuldigen sich ihre Söhne und Töchter,
dass „sie zum Eintritt gezwungen wurden“.
Das Pro-Nazi-Regime in Estland wird vom Westen
toleriert und unterstützt, da die USA und die NATO ein
anti-russisches Estland brauchen. Das Neocon-Aushängeschild, das
Wall Street Journal (30. April 2007, Estonia and the
Bear), ermutigte die Eestlanes ihren Konflikt mit ihrem
östlichen Nachbarn eskalieren zu lassen. Einst spielte diese
Zeitung die irakische Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen
hoch, und jetzt prangert sie „russische Beteiligung“ an: „Einige
der 1000 Aufrührer, die verhaftet wurden, kamen erst in den
letzten Tagen aus Russland an“, „Die eigentlich Anregung kam von
Russland.“
Dies ist alles andere als wahr. Russland macht
gute Geschäfte mit Estland. Das unabhängige Estland ist für
Russland ziemlich nützlich als nahes Bankzentrum, als ein guter
Warenumschlagsplatz, für kleine Import-Export-Geschäfte und als
beliebtes Tourismusziel. Russische Geschäftsleute verschiffen
ihr Öl über estnische Häfen und entwickeln deren Infrastruktur,
sie nutzen estnische Flugverbindungen und bauen
Tourismusprojekte. Russland ist an Problemen in Estland nicht
interessiert.
Das Wall Street Journal und seine Neocons
haben keinerlei moralische Bedenken; sie predigen die
Menschenrechte, wenn es ihnen nützt und ignorieren ihre
Missachtung, wenn es in ihre Pläne passt. Sie schreiben: „[Die
Esten] bestehen nicht ganz zu unrecht darauf, dass die Russen
ein paar Worte ihrer Sprache lernen müssen, um die
Staatsbürgerschaft zu erhalten.“ Dies ist eine Lüge. Alle
Einwohner Estland haben ausreichend Kenntnisse der einheimischen
Sprache, aber sie können den Test nicht bestehen, da dessen
Zweck der ist, den nicht reinrassigen Esten die
Gleichberechtigung zu verweigern. „Und die Mehrheit der
lettischen und estnischen Russen haben ihre Staatsbürgerschaft
erhalten“, sagte das Wall Street Journal, und das ist
eine weitere Lüge. Die estnische Apartheid ist eine Tatsache,
und sie ist offensichtlich, aber die Neocons ignorieren sie.
Der estnische Premierminister Ansip erklärte
seine Handlungen mit der dringenden Notwendigkeit, das Zentrum
Revals von den Gräbern von „Plünderern, Trunkenbolden und
Besatzern“ zu säubern. Seine Taten fanden den Beifall des
Wall Street Journals: „Die estnische Regierung exhumierte
die Überreste sowjetischer Truppen und überführte die
Bronzestatue des Soldaten der Roten Armee auf einen
Militärfriedhof in der Nähe der Hauptstadt. Die Esten sind sehr
großzügig, sie überhaupt aufzubewahren: Frankreich hat kein
Denkmal der Nazi-Besetzung.“
Wer lag dort begraben? Das Grab des Unbekannten
Soldaten war ein Gemeinschaftsgrab für zwölf sowjetische
Soldaten, die starben, während sie Reval den Deutschen
entrissen. Einer der zwölf war ein zwanzig Jahre altes jüdische
Soldatenmädchen, Nurse Elena Warschawsky, gebürtig aus der
Ukraine. Ihre revolutionärer Vater Moses hatte sie Lenina
genannt, aber sie zog ihren weniger exotischen Namen vor. Sie
wurde am 23. September 1944 im Kampf getötet. Sie war keine
Besatzerin; sie war eine junge Frau, die beim Kampf gegen die
Nazis starb. Jetzt wurden ihre Überreste und die ihrer elf
Kampfgenossen von einem zarten estnischen Bulldozer entfernt,
und gleichzeitig wird sie von den Neocons des Wall Street
Journals mit den Nazis verglichen.
Die Neocons sind berüchtigt für ihren Mangel an
Skrupeln, aber dieser Fall setzt allem die Krone auf. Der
Vergleich eines israelischen jüdischen Soldaten mit den Nazis
wird üblicherweise von Israel und seinen amerikanischen
Freunden, einschließlich des Wall Street Journals, mit
einem Aufschrei der Verdammung beantwortet. Aber niemand hatte
etwas dagegen, als diese Zeitung Elena Warschawsky mit den Nazis
verglich. Israel blieb still. Jüdische Organisationen waren so
stumm wie Fische. Das in jüdischem Besitz befindliche und
herausgegebene Wall Street Journal wird zu Recht
normalerweise sehr lautstark, wenn ein jüdisches Grab geschändet
wird. Aber in diesem Fall spendeten sie den Schändern Beifall.
Warum sollten sie sich auch überhaupt um das
tote jüdische Mädchen kümmern, wo sie doch Wichtigeres zu tun
haben: Sie versuchen, eine Konfrontation zwischen Esten und
Russen zu provozieren, sie versuchen, die Eestlanes davon zu
überzeugen, dass sie den Bären unter dem NATO-Schutzschild am
Schnurrbart ziehen können: „Der Kreml kann im Baltikum immer
noch für Aufruhr sorgen. Glücklicherweise fürchtet das kleine
Estland als NATO-Mitglied nicht mehr wie 1940 um sein Leben.“
Wieder falsch. In den 1930er Jahren verleiteten
die Vorgänger der NATO, England und Frankreich, Polen und die
Tschechoslowakei in ähnlicher Weise zu einer Konfrontation mit
Russland und Deutschland. Die Polen und Tschechen fielen auf den
Trick herein, und sie taten alles, in ihrer Macht stehende, um
Russland und Deutschland zu provozieren, im Glauben, der Westen
werde ihnen helfen. Aber als sie in Not waren, ließ der Westen
sie wie eine heiße Kartoffel fallen. Schon morgen wird der
Westen dieses Manöver mit Estland wiederholen.
Die Esten sollten von ihrem Nachbarn Finnland
lernen. In den 1930ern begannen die Finnen eine ehrgeizig
anti-russische Politik zum großen Wohlgefallen der geistigen
Väter der Neocons. Sie bezahlten dafür mit zwei verlorenen
Kriegen und einem großen Stück verlorenen Territoriums. Nach
dieser schmerzhaften Lektion tauschte Finnland seinen
Mannerheim-Konfrontationskurs mit Russland gegen den
Freundschaftskurs von Paasikivi ein. Finnland hatte nie einen
Grund, dies zu bereuen. Das Land blühte, es hatte Vorteile aus
dem Transithandel mit der UdSSR und danach mit dem neuen
Russland. Finnland hielt sich von der NATO und antirussischen
Bündnissen fern und blieb völlig unabhängig, frei und
erfolgreich.
Der äußere anti-russische Apartheidskurs der
gegenwärtigen estnischen Führerschaft steht im inneren
Zusammenhang mit ihrer innenpolitischen Apartheid. Falls die
Esten nicht beides ändern, sind die Tage ihrer Unabhängigkeit
gezählt. Eines schönen Tages, wenn US-Panzer nach Teheran
rollen, um dort die „Demokratie“ zu errichten, könnte eine
russische Luftlandedivision eine asymmetrische Antwort geben und
das Apartheidsregime in Reval absetzen. Große Länder haben ihre
Möglichkeiten und Russland könnte aus der amerikanischen
Behandlung des unabhängigen aber feindlich gesinnten Panama
lernen. Die Passage zum Golf von Finnland ist für die russische
Flotte nicht weniger wichtig, als die Durchfahrt durch den
Panama-Kanal für die amerikanische Navy. Wenn die estnische
Führerschaft nicht das Schicksal von Präsident Manuel Noriega
teilen will, sollte sie darüber nachdenken, ob die USA
tatsächlich für sie kämpfen würden. Die Eestlanes werden die
Russen immer als ihre Nachbarn haben, außer sie planen einen
großen Treck nach Manitoba. Die Abschaffung der Apartheid und
das Umschalten auf einen Freundschaftskurs à la Paasikivi mit
ihrem großen östlichen Nachbarn wird die estnische
Unabhängigkeit besser garantieren, als die NATO und die Neocons
des Wall Street Journals.
Übersetzung: Friederike Beck
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